Ich bin müde

Den Satz „Ich bin müde“ hören wir seit letztem Jahr fast inflationär. Selbst bei den grössten Optimisten und von Fröhlichkeit geprägten Menschen zog dieser Satz nun ein. Kaum einer, den ich kenne, der ihn nicht in letzter Zeit verwendete. Vielleicht weil er zum Pseudonym für vieles geworden ist, was wir nicht in Worte fassen können, etwas was nicht tatsächlich mit dem Zustand der Müdigkeit im Sinne von fehlenden Schlaf zu tun hat. 

Müde hat viele Möglichkeiten der Interpretation. Aber von was sind wir denn nun wirklich müde und was bedeutet es wenn mir jemand sagt ich bin so müde? Müde vom Leben, der Situation? Müde vom Warten und Verharren? Müde von der Diskussion? Müde von Sorgen? Einer Depression? Müde der immer gleichen Botschaften? Der überwältigenden Flut zu vieler Information? Müde von der Dauerbeschallung, sei es Social Media und Co. oder ständigen Reizüberflutung durch TV, Serien, und Radio? Ist der Begriff Müde von Sehnsucht nach Ruhe geprägt? Nach unbeschwertem Lachen, sich keine Gedanken machen? Nach einem Leben wie in einem unbeschwertem Liebesfilm? 

Nicht immer wird gesagt „ich bin müde“ oft stellen wir es fest in der bedrückten Stimmung unseres Gegenübers, dem langen Schweigen am Telefon. Dem fehlenden Esprit, egal in welcher Situation. Der Überempfindlichkeit, Gereiztheit bis hin zur Aggression. Der Frust, sei er nun aus Sorge oder reinem Egoismus geboren, er ist täglich zu sehen. Im Supermarkt, an der Kasse, Freundlichkeit geht hier verloren. Genauso wie im Netz, jene die ätzen, beleidigen, deformieren, sie haben Hochkonjunktur. Reagierte an dieser Stelle der angegriffene bis dato noch ruhig so sehen wir doch, die Zündschnur wird kürzer. So entbrennt der Streit. Festverbissen in den jeweiligen Standpunkt wird sich bekriegt, beleidigt und beschimpft, es bilden sich nie geahnte Allianzen, Hauptsache der Kurs der ist auf Sieg. Vergessen werden Freundschaften die über die Jahre gewachsen sind, dem Blick fest fokussiert auf die Tatsache eine andere Meinung zu haben. Respekt, Akzeptanz, weit gefehlt. Falsch verstandene Loyalität. Zieh ich in den Krieg, so werfe dich vor mir in den Schützengraben, tust du es nicht, so warst du die längste Zeit mein Freund, bist heute nur noch Feind, den es gilt mit allen Mitteln zu bekriegen. Er soll mir und meiner Meinung unterliegen. Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft, alles nur noch leere Worte denn die Gesellschaft ist müde des ewigen Kampfes. Es ist leichter sich hin zu geben in eine vermeintliche sichere Truppe die einem Honig ums Maul schmiert, als sich seiner Ohnmacht zu stellen, die gerade so viele regiert. Schnell einen Schuldigen ausgemacht, leichte als an die eigene Nase gefasst. 

Auch ich bin müde, kann nicht mehr, nicht wegen dem eingeschränkten Leben, nicht weil ich an Einsamkeit ersticke, nicht weil ich Sehnsucht nach meiner Familie habe, nein, all das ist es nicht. Ich bin müde ob der Ungerechtigkeit. Aber auch mich befällt das Ego Gen. So frage ich mich, Tag ein Tag aus, wen interessiert es eigentlich wie es mir geht wenn das Telefon mal wieder klingelt und ich mit Banalitäten zugemüllt werde. Versteht mich hier nicht falsch, ich bin immer hilfsbereit. Aber da wird sich beklagt und beschwert. „Ach ja, der Osterurlaub auch abgesagt“, „wie ungerecht da sollen doch die Geimpften bevorzugte Behandlung bekommen, dürfen ohne Test dieses und jenes und ich wann komm ich denn da erst dran“ „mein Hund kackt mir auf den Teppich“ und vom Multi „Meine Frau gibt jeden Monat zu viel Geld aus und unterstützt mich nicht“. An dieser Stelle war meine Wut deutlich zu spüren. Kein wie geht es dir und seit Jahren die selbe Leier. Nur dieses mal antwortete ich nicht mit Geduld sondern sagte was ich dachte. Ohne Takt und ohne Empathie riet ich „sperr ihr die Karte“. Natürlich war das falsch, ich böse aber auch, wie kann ich das einfachste nur erwähnen und nicht ausreichend trocknen die Tränen. Nur wer trocknet bitte meine Tränen? Warum soll ich meine Nerven nicht schonen wenn sich keiner darum bemüht überhaupt mal zu fragen, ob es gerade passt jemanden mit solch Dingen einen zu belangen? 

Ich bin müde und mein Gewissen protestiert. Ja, mein Gewissen meldet sich sofort, wenn meine egoistische Seite Oberhand gewinnt. Verstehe ich doch dass was für mich eine Banalität, für andere ein ernsthaftes Problem, eine Last darstellt. Jeder empfindet Dinge unterschiedlich. Interpretiert sie individuell. Mein Gewissen schimpft also mit mir, wenn ich Menschen blockiere, weil ich nicht Lügen will, sie nicht verletzten möchte, nicht sagen kann ich habe keine Lust auf deinen Kram. Genauso protestiert mein Gewissen dann wenn ich genau das tue was ich bei anderen nicht mag: jammern. Wenn ich mich zum x-ten mal über xy aufrege aber doch kaum etwas ändern kann. Ein echtes Dilemma auf das ich meist mit Rückzug reagiere. Das gewissen protestiert, ich ignoriere. 

Ich habe Angst davor, dass die Müdigkeit gewinnt. Nicht nur bei mir sondern vielen anderen. Ich will kein Herz aus Stein.  Ich weiss nicht wie es euch da so geht. Der Verlust der Empathie, der Hand in Hand geht mit der Müdigkeit, der macht sich so unendlich breit. Irgendwie geht die Gelassenheit dabei auch verloren. So stellt man fest, was man einst grosszügig übersah befeuert jetzt eine innere Wut. Sie verengt den Blick, fördert aggressives Verhalten, lässt uns nicht denken sondern nur noch reagieren. Wie bei einem Tier agieren wir aus einem Reflex. Unser höchstes Gut, die Fähigkeit bewusst und überlegt zu handeln liegen brach. 

Ich bin müde so zu werden und zuzusehen die die Welt zerfällt. Meine, deine, die der anderen. Hoffnungen platzen wie Seifenblasen. Misstrauen und Angst täglich mehr Einzug hält. Es an Menschlichkeit fehlt, an Empathie. An echtem lachen. An Wärme. Dem wohligen Gefühl der Geborgenheit in einem Leben in Sicherheit.

Ich denke vielen geht es so wie mir, denn eine Krise zeigt meist das wahre Gesicht so vieler, Masken fallen und jeder ist sich am Nächsten. Das ist eine Entwicklung die ich weitaus beunruhigender finde als den Gedanken an weitere Einschränkungen, denn irgendwann werden die Fronten so verhärtet sein, dass es kein zurück mehr gibt. 

Love, Stefanie

4 Kommentare

  1. April 14, 2021 / 10:53

    Ach, Stefanie!
    Genauso geht es mir auch und offensichtlich noch einigen anderen. Wenn ich die Scheinwelten sehe, die manch eine/r sich gerade auf Instagram aufbaut, graut es mir. Sind das die Menschen, die zu allem „ja“ sagen, um dann ihrem Egoismus freien Lauf zu lassen? In Zombieapokalypse- und Katastrophen-Filmen rege ich mich als Zuschauerin immer über solche Individuen auf. Offensichtlich gibt es sie aber wirklich und gerade jetzt zu Hauf.
    Da hatten wir wohl gestern den gleichen Gedanken und ähnliche Gefühle.
    Dein Blogpost bring es wie immer auf den Punkt. Mittlerweile konnte ich mich auch durch einige andere Posts bereits durchlesen. Wir sind auf einer Wellenlänge.

    Alles Liebe!
    Andrea

    • April 14, 2021 / 14:00

      Hallo Andrea,

      ich hatte den Post bereits am Montag fertig, postet ihn aber wegen dem Aktuellen Bericht über BV nicht und tatsächlich war mir Dienstag so gar nicht nach Instagram und alle die virtuellen Welten, auch weil ich ein Treffen im wahren Leben hatte über das ich morgen berichten werde. Ich denke auch wir sind so ziemlich auf einer Wellenlänge und musste tatsächlich bei deinem Beitrag dann denken dasss du genau auch das schreibst was ich da geschrieben hatte. Über Scheinwelten, Parallel Universen und Ego Aussetzer wird es demnächst auch noch etwas geben. aber ich will es nicht übertreiben und werde zwischen drinnen auch mal leichte Kost servieren. Also über Trends etc berichten. Ich freu mich sehr darüber wieviel Zeit du dir nimmst hier auf dem Blog zu stöbern.Vielen dank dafür und habe einen tollen Tag, auch wenns gerade nicht immer einfach ist

      Liebe Grüsse
      Stefanie

  2. Elke
    April 14, 2021 / 12:31

    Hallo,
    Irgendwie schreibst du sehr genau was ich mir ganz ganz oft denke die letzte Zeit.

    Liebe Grüße

    Elke

    • April 14, 2021 / 13:53

      Hallo Elke,

      ich denke es lässt sich nicht mehr ignorieren…

      Liebe Grüsse
      Stefanie

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